Mittwoch, 9. Juni 2010

Sophie will baggern und ich bammeln oder: Der gebremste Radler

Ich liebe meine Patin über alles

Ich liebe meine Patin über alles

Ich liebe meine Patin über alles. Menschen, die einen Paten, oder die weibliche Form davon, eine Patin, besitzen, sind überhaupt von allerhöchster Instanz gesegnet. Meine Eltern sind mit meiner Patin nicht verwandt und so bin auch ich es nicht, trotzdem ist unser Kontakt sehr innig. Besonders gut verstand sich auch meine Mutter mit der Patin – sie heisst Alice, nicht die Mutter, die Patin. Vielleicht ist auch das der Grund gewesen – das Sichgutverstehen – warum ich von meiner Mutter oft zu Besuchen der Patin mitgenommen wurde. Ich war vielleicht vier oder älter. Auf jeden Fall kann ich mich schon noch ans eine oder andere erinnern. Dinge, die kleine Kinder halt wahrnehmen wenn sie einigermassen auf Zack sind. Ich für meinen Teil habe meine infantile Umgebungsidylle bis in die peinlichsten Winkel auskundschaftet, wenn ich in der Wohnung der Patin auf Streifzug ging. Ich tat das aber nur, wenn bei den Damen im Wohnzimmer Kaffeeplausch und Zeitschriftenaustauschen angesagt war, dann fragte ich mich Sachen wie: warum die Patin im Kleiderschrank enge Uniformen aus Kunststoff hat und der Teppichklopfer hinter der Waschmaschine mit kleinen Lederzotteln versehen ist? Das muss doch wehtun, wenn man mal den Teppich nicht trifft beim Entstauben, vielleicht sich sogar über den Oberschenkel schmettert oder einen fremden Rücken touchiert. Heute weiss ich natürlich, dass dem so ist, ich werde die Patin aber nicht darauf ansprechen. Gerne erinnere ich mich auch daran, dass die Patin pausenlos überzeugt davon war, ich sei bestimmt hungrig und mir mit einem feuerroten Fleischermesser eine Zuckerrutsche zimmerte. Für Nichteingeweihte: Eine Zuckerrutsche besteht aus einer Scheibe Brot mit oben dick Butter und fett Zucker drauf. Dazu wurden Katzentatzen gereicht, die wir spasseshalber so nannten, eigentlich sind es nur Schokoladenupsis, die die Kontur einer Katzentatze umschreiben. Eigentlich tun sie nicht mal das, sie sehen mehr so aus, wie ein ellipsenförmiges Rhomboid. Nicht so gerne erinnere ich mich an den Kühlschrank. Wenn man den öffnete roch die Bude nach Fisch, weil Käse drin war. Oft habe ich aber nicht nur den kulinarischen Freuden gefrönt, mich auch körperlich aktiv gegeben und die lustige Frauenwelt, allesamt am Küchentisch hockend, mit einer Charminklorolle an die spärlichen Sitzgelegenheiten im Raum gefesselt, am Kleiderhaken hinter der Waschzimmertür Klimmzüge geübt oder scheste ziellos von A nach B. Einmal kam es soweit, dass die liebe Patin in gut gemeinter Prävention die Schlafzimmertür abschloss, damit ich nicht so doll durch die Wohnung wetzen konnte. Seither verbrachte ich mehr Zeit draussen auf dem Spielplatz vor dem Haus, weil’s drinnen keinen Anreiz zum Saurauslassen mehr gab. Draussen lernte ich Sophie kennen. Sophie war ein ganz betörendes Mädchen und ich wüsste heute bestimmt besseres mit ihr anzufangen als mit ihr Sandburgen zu bauen und auf der Schaukel zu bammeln. Trotzdem war unsere grassierende Sozialkompetenz, die damals natürlich noch nicht auf dem höchsten Level angelangt war, rückblickend sicher hinreichend abstrakt, um dem einen oder anderen ein Schmunzeln von den Lippen zu ringen. Ich verstand die Welt nicht mehr, wenn Sophie ohne vorher zu fragen meinen gelben Lieblingsbagger an sich nahm und patschte ihr dementsprechend emotionsgeladen mit der flachen Rechten ins Gesichtchen. Kleinen Jungs nimmt so was ja auch keiner übel, sind ja Kinder. „Hättest Theo halt vorher fragen müssen, ob du seinen Bagger haben darfst oder nicht“, wird Sophie bestimmt mehr als einmal gehört haben, wenn sie flennend zur Mudda lief. Heute ist das natürlich alles komplizierter. Ab zehn Jahren aufwärts muss man sich von Mädchen zuerst schlagen lassen, bevor man sie abstrafen, sprich mal ordentlich durchprügeln darf. Alles in Allem hatten mich Besuche bei der Patin immer in Fahrt gebracht und des Abends sank ich wahrscheinlich schon nach den zehn Uhr Nachrichten völlig knülle in die Heia. Saying „knülle“, kann man doch am besten über den Sinn und Unsinn menschlichen Denkens nach einem harten Arbeitstag philosophieren, wenn man sich total groggy gleich einem verwundeten Kapaun ins schützende Nest zurückzieht und für sich resümiert. Da hinterfragt man sich doch auch, wieso der Mensch zwischen Fahrt und Reise unterscheidet. Ich bin ein heissblütiger Vertreter der These: Fahrt und Reise differenzieren sich auf Grund der Überlegenheit des Wörtchens „Reise“ gegenüber dem Schwesterherz „Fahrt“, in Bezug auf terrestrische Distanz. Dazu ein Beispiel: Wenn einer mit dem Auto von Zürich nach Chemnitz fahren will, wünscht ihm ein jeder eine gute Reise. Geht einer zuhause vom Fernseher wo auch der Rest der Sippe kauert, zum Klo wünscht ihm keiner weder eine gute Fahrt noch eine gute Reise, weil anhand der bequem überbrückbaren Distanz die Risiken mit einem unfallprovozierenden Faktor perdu zu werden auf ein Minimum abfallen und eine sich eventuell anbahnende Panne zwischen Sofa und Schüssel extrem einkalkulierbar ist. Ausser man wohnt in einer dekadenten Penthousewohnung wo man zum Scheisshaus den Porsche nehmen muss. Whatever, ich wollte den Denkanstoss in die Runde werfen. Genauso gut hätte ich mich fragen können, wie man einen Homo sapiens sapiens beadjektivieren kann, der auf dem Rad bergab von einer Bremse gestochen wird. Der gebremste Radler? Dazu soll man sich jetzt noch das Unfallprotokoll des Polizisten X ausdenken, der den Schaden rapportierte, nachdem eine Kollision zwischen dem gebremsten Radler und einem anderen Radfahrer stattgefunden hatte: Infolge Ausbremsung des Fahrers X verlor dieser die Herrschaft über sein Fahrzeug, konnte nicht mehr bremsen und rummste in Fahrer Y.

- Theo Retisch

1 Kommentar:

  1. Selten ist unsere postmoderne Gesellschaft so pointiert beschrieben worden, die Worte sind gut gewählt, nur vermisse ich das Wort "Geblei".

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